Der Vortrag muss leider am 22. November 2017 ausfallen. Er wird aber nachgeholt.
Am 28. August 2017 gaben Polizei und Staatsanwaltschaft in Oldenburg die Ermittlungsergebnisse der Sonderkommission Kardio bekannt: der frühere Krankenpfleger Niels Högel soll zwischen 2000 und 2005 in zwei Kliniken in Oldenburg und Delmenhorst mindestens 90 Menschen umgebracht haben. Högel, der in den Intensivstationen der beiden Krankenhäuser tätig war, hatte einer bis dato unbekannten Anzahl von schwerkranken Patienten Medikamente injiziert, die unter anderem Herzversagen auslösen. Högel habe immer wieder Patienten überdosiert und sie im Anschluss wiederbelebt, um bei erfolgreicher Mission vor Kollegen als Lebensretter dazustehen. Im Fokus der Ermittler standen neben dem Krankenpfleger auch verantwortliche Mitarbeiter der betroffenen Kliniken. In beiden Krankenhäusern habe es anlässlich der auffällig hohen Todesraten Gerüchte, aber keine Konsequenzen gegeben. Der zuständige Polizeichef vermerkte, dass die Morde hätten verhindert werden können, wenn in den betreffenden Kliniken den Verdachtsmomenten nachgegangen worden wäre.
Sonderlich groß war das Interesse an der Thematisierung der institutionellen und personellen Zustände, die eine solche Mordserie ermöglichen, ohne dass die tödlichen Menschenversuche jemandem auffallen, auch außerhalb der beiden Kliniken nicht. Der mediale Aufschrei blieb aus. Abgasskandale in der Autoindustrie, böse Worte von Populisten oder der Kontostand von Boris Becker, all das bringt die Deutschen eher in Wallung als die herrschenden Zustände im Medizin- und Pflegebetrieb. Dass Krankenhäuser oder Pflegeheime zu den gefährlicheren Aufenthaltsorten in diesem Land zählen, ist indessen hinreichend dokumentiert. In einer im Juni dieses Jahres veröffentlichen Befragung zur Gewalt in Pflegeheimen durch das Zentrum für Qualität in der Pflege (ZQP) gaben fast zehn Prozent der Pflegedienstleister und Qualitätsbeauftragten an, dass es „oft“ oder „gelegentlich“ zu körperlicher Gewalt gegen die Bewohner komme. 40 Prozent sprachen davon, dass körperliche Übergriffe „selten“ geschehen.
Das öffentliche Desinteresse angesichts der Misshandlungen von Ausrangierten korrespondiert mit einem immer offener zutage tretenden Ressentiment gegen Alte, Schwache und Abgehängte, die vor allem deswegen beargwöhnt werden, weil sie dem Idealbild des flexibilisierten Subjekts entgegenstehen. Nix leisten, aber beim Rumliegen kosten: das ist gemeint, wenn von Kostenexplosionen im Sozialsystem und Ähnlichem die Rede ist. Als unbequeme Problemfälle gelten chronisch Unterstützungs- und Hilfsbedürftige auch, weil die Versorgung und Verwaltung tendenziell Überflüssiger sozialstaatliche Maßnahmen erforderlich macht, die die Apologeten der Eigenverantwortung und des Rückbaus sozialer Sicherungssysteme am liebsten ganz abschaffen würden, während die, die körperlich nicht oder nicht mehr mitkommen, daran erinnern, dass das konkurrenzbefeuerte Abstrampeln endlich ist. Die Katastrophenszenarien zur Überalterung der Gesellschaft sind genauso wie die als Antifaschismus getarnten Hassbotschaften gegen „alte weiße Männer“ immer auch als Drohungen an die Adresse derjenigen zu lesen, die beim Vormarsch der vitalen Aktivbürger auf der Strecke bleiben.
Im maroden Gesundheitssystem, also dort, wo Menschen in unmittelbarer Weise von anderen abhängig sind und wo Fachleute Zugriff auf Leib und Leben derer haben, die ihnen anvertraut sind, kommt das Wesen der herrschenden Gesellschaftsordnung unverhüllt zum Vorschein. Misst man die Linke an ihrem Anspruch, dem herrschenden Unheil etwas entgegensetzen zu wollen, hätte sie sich in kritischer Absicht mit den erniedrigenden Zuständen in den zeitgenössischen Menschenverwahranstalten zu befassen. Möglicherweise ist es für alle Beteiligten jedoch besser, dass die Linken bei ihren staatsantifaschistischen Empörungsritualen, ihrem albernen Selbstverwirklichungstheater und dem rührseligen Identitätskarneval der Geschlechter und Ethnien bleiben, denn was dabei herauskommt, wenn antikapitalistische Aktionisten die Trillerpfeife gegen rechts beiseitelegen und plötzlich die Lust am Engagement für bessere Arbeitsverhältnisse im Gesundheitssektor entdecken, bezeugt ein jüngst veröffentlichtes Video der Interventionistischen Linken. Darin ist ein gutes Dutzend schamfrei herumhampelnder Interventionisten in Krankenhauskluft zu sehen, die in der Berliner Charité unter dem Motto „Das Leben ist keine Ware!“ eine kollektive Tanzeinlage zu Rihannas auf bauchlinkes Niveau zurechtgetexteten Song „Umbrella“ zum Besten geben, die vor allem die Frage aufwirft, was hier erstaunlicher ist: das infantile Politikverständnis des heutigen Linksradikalismus oder die Unbekümmertheit, mit der man sich selbst zum Affen macht.
Dass in einer Mischung aus Kindertanzgruppe und therapeutischer Theatergruppe aufs Kitschigste herumgeblödelt wird, wo schonungslose Kritik anstünde, ist Ausdruck der allgegenwärtigen Unfähigkeit, sich mit gesellschaftlichen Verhältnissen ernsthaft zu befassen, geschweigen denn sie zu kritisieren. Dass die linken Unternehmungen auch dort, wo sie auf einen unbedingt kritikwürdigen Gegenstand treffen, weitaus mehr mit einem Kreativworkshop zur Vorbereitung auf die prekäre Berufsstätigkeit im Dienstleistungssektor als mit materialistischer Kritik zu tun haben, ist die Folge eines politischen Verfallsprozesses, in dem sich die Linke seit ihrer Verabschiedung von der Kritik der politischen Ökonomie befindet. Der Ursprung liegt einige Jahrzehnte zurück und beginnt irgendwo dort, wo man sich vom Proletariat verabschiedete und auf die Suche nach neuen politischen Subjekten und erfüllenden Initiativen machte. Man will seither nichts mehr von der Welt – außer ein bisschen Anerkennung fürs Mitmachen. Vorbei ist die Zeit, in der die Parole „Macht kaputt, was euch kaputt macht!“ immerhin für eine Wut auf das falsche Leben stand.
Im Vortrag wird dargelegt, dass mit dem Proletariat auch die Kritik gesellschaftlicher Produktions- und Reproduktionsverhältnisse verabschiedet wurde, an deren Stelle eine schrille pseudoindividualistische Befindlichkeitspolitik gerückt ist, die der sinnlosen Schufterei im Dienste des Kapitals nicht nur nichts entgegenzusetzen hat, sondern sie stützt. Es soll außerdem in Erinnerung gerufen werden, dass der Kampf für mehr Lohn und mehr Feierabend sowie die Kritik der spätkapitalistischen Menschverwahrung keine Marotte aus der Rubrik Sozialromantik ist, sondern ein notwendiger Beitrag zur Verteidigung der Zivilisation.
Mi. 22. November, 19:30 Uhr Fällt aus. Wird aber nachgeholt.