Die „Nationale Akademie der Wissenschaften, Leopoldina“ und ihre bemerkenswerte Verbindung zu Witten

Wahrscheinlich haben die meisten mitbekommen, dass die „Nationale Akademie der Wissenschaften, Leopoldina“ gerade groß rauskommt. Weniger bekannt ist, dass sie eine gewisse Verbindung zu Witten hat, und zwar weil der in Witten geborene Otto Schlüter 1942 ihr Vizepräsident wurde. 1952 – zu DDR-Zeiten – wurde er ihr Präsident. Schlüter wurde am 12. November 1872 geboren. Sein Vater war Rechtsanwalt. Schlüter wurde Professor für Geographie, zunächst an der Uni Bonn, dann an der Uni Halle/Saale in Sachsen-Anhalt, also dort, wo die „Leopoldina“ sitzt. Schlüter wurde 1923 ihr Mitglied. Er entwickelte in grundlegenden Werken die Grundzüge einer Historischen Geographie (z. B.: Ziele der Geographie des Menschen, 1906; Bemerkungen zur Siedlungsgeschichte, 1899; Über das Verhältnis von Mensch und Natur in der Anthropogeographie, 1907). Landschaft betrachtete und erforschte Schlüter einzig als Siedlungsraum des Menschen. Sein kartographisches Hauptwerk war: Siedlungsräume Mitteleuropas in frühgeschichtlicher Zeit. In der NS-Zeit forschte er für die SS-Forschungseinrichtung „Stiftung Ahnenerbe“ (lesenswertes Standardwerk: Michael H. Kater: Das „Ahnenerbe“ der SS 1935–1945, München 2006). Sein Projekt hieß: Forschungswerk „Wald und Baum in der arisch-germanischen Geistes- und Kulturgeschichte“. Es zählte zu dem umfassenderen Programm mit dem schönen Namen „Kriegseinsatz der Geisteswissenschaften“.

Für seine Verdienste wurde Schlüter von Adolf Hitler auf Vorschlag des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda (das war das Ministerium von Joseph Goebbels) am 31. Oktober 1942 mit der „Goethe-Medaille für Kunst und Wissenschaft“ ausgezeichnet. Reichspräsident Paul von Hindenburg hatte sie 1932 zu Goethes hundertstem Todestag gestiftet. Sie wurde selten vergeben. Um mit ihrer Verleihung gewürdigt zu werden, waren außergewöhnliche fachliche Verdienste und NS-Kompatibilität politische nötig.

Für die Rechten in der Weimarer Republik und vor allem für die Nazis war der Wald „Ausgangspunkt einer von ‚rechts‘ her konstruierten, in die Geschichte hineingespiegelten Germanen- und Arier-Identität, worin Wald und Volk fusionierten.“ (Rusinek, Bernd-A.: „Wald und Baum in der arisch-germanischen Geistes- und Kulturgeschichte“ – Ein Forschungsprojekt des „Ahnenerbe“ der SS 1937–1945, in: Lehmann, A.; Schriewer, K. (Hrsg.): Der Wald – Ein deutscher Mythos? Perspektiven eines Kulturthemas, Berlin 2000, S. 267–364). Wolfgang Kapp, nach dem der Kapp-Putsch im März 1920 benannt ist, stellte die germanische Wald-Demokratie der angeblich waldfernen Sozialdemokratie entgegen. Elias Canetti brachte es 1960 in seinem Buch „Masse und Macht“ auf den Punkt: „Der deutsche Wald steht wie ein Heer.“ Die Nazis sahen sich nicht nur als Retter des germanischen Volkes, sondern auch des Waldes. Abgesehen von seiner Funktion für die Ideologie war der Wald als Ressource innerhalb der nationalsozialistischen Autarkie-Politik bedeutsam. So wundert es nicht, dass Schlüter im „Ahnenerbe“ eng mit dem Reichsforstamt zusammen arbeitete.

Schlüter war vermutlich ein erzkonservativer bürgerlicher Mann, der sich in allen politisch-gesellschaftlichen Systemen zurecht fand: Kaiserzeit, Weimarer Republik, NS und DDR. Ein ideologischer NSHardliner war er nicht. Er starb am 12. Oktober 1959 in Halle. In dem Buch „Wittener Köpfe“, das der Verein für Orts- und Heimatkunde 2002 herausgab, fehlen in Schlüters Biographie die Jahre 1938 bis 1945. Dasselbe gilt für das Buch „Witten – Werden und Weg einer Stadt“, das sich derselbe Verein 1961 zu seinem 75. Geburtstag schenkte. Mit einem Präsidenten der Leopoldina kann man sich wahrscheinlich besser identifizieren als mit einem Kämpfer der Geisteswissenschaften im nationalsozialistischen Kriegseinsatz.